Der Verlust

Ich habe etwas verloren, sogar etwas Wichtiges. Und zwar im Wald. Oder so ähnlich.

Es war losgegangen wie immer. Gemeinden wehrten sich, Beschlüsse wurden gefasst, gerichtlich angefochten, ein hin und her, Anwohner gingen auch vor Gericht… das übliche Geplänkel bei Flughafenausbau. Nachdem wir endlich höchstamtlich und höchstrichterlich die Erlaubnis hatten, gingen wir zu Werke. Wir umzäunten das abzuholzende Gebiet, stellten aus den umliegenden Bodybuilding-Studios eine Menge Leute ein als Wachen (natürlich 1 Euro-Jobs), verkündeten einen Baubeginn und bestellten das notwendige Equipment und die Arbeiter für zwei Wochen nach dem Baubeginn. Zum Baubeginn begannen wir mit wenig: ein paar Arbeiter, dazu steckten wir einige vertrauenswürdige von unseren Sicherheitskräften in Blaumänner, dazu kamen dann noch zwei Planierraupen und ein Bagger. Damit taten wir so, als würden wir mit der Arbeit beginnen. Wir ließen uns natürlich von den protestierenden Bürgern und Umweltschützern daran hindern. So was ist man heutzutage schuldig.

Es war die übliche Klientel. Geängstigte, Wütende, auch Verrückte. Wie die mit allen möglichen Amuletten, Ringen, Ketten etc. behängte Frau, die sich vor mir aufbaute und etwas über die Geister der Bäume, das Gleichgewicht der Natur und ähnliches laberte. Es belustigte mich damals. Jetzt ist das nicht mehr so.

Nach nur eineinhalb Wochen waren die Umweltschützer aus den Bäumen geklettert, umjubelt von den wenigen, die das noch interessierte. Der Rest war arbeiten oder Tauben füttern. Wir konnten also rechtzeitig loslegen. Und das taten wir auch.

Hin und wieder passieren merkwürdige Dinge bei solchen Bauten. Beispielsweise hat im Ausland mal ein Brand den Wald zerstört, der kurze Zeit später hätte gerodet werden müssen. Egal. Bei uns war das nicht anders. Eines Tages tauchte ein kleiner, bärtiger Mann – augenscheinlich ein Liliputaner – mitten im Räumungsgebiet auf. Die Sicherheitskräfte hatten scheinbar geschlampt. Ich war zufällig in der Nähe und bekam das mit. Ich sprach sogar kurz mit ihm. Er erzählte, er sei vom Volk der Wälder als Gesandter geschickt. Ich wäre nach vielen Jahren der erste Menschling, mit dem er spräche. Und er drohte mir mit vielen Konsequenzen, wenn wir uns nicht zurückziehen würden.

Ich bestellte vier Wachen zu mir und ließ auch zwei der Polizisten rufen, die uns unterstützten. Danach war die Sache für mich erledigt. Ich wunderte mich nur, als mir ein paar Tage später berichtet wurde, die Polizei hätte ihn mitnehmen wollen, er konnte sich noch nicht einmal ausweisen, doch er wäre irgendwie entwischt.

Wir kamen dann gut voran. So gut, dass wir mehrere Wochen vor Plan den Bau abschließen und eine gute Prämie sichern konnten. Die ersten Testflüge verliefen ohne Probleme, und dann kam der entscheidende Tag: die offizielle Eröffnung der neuen Rollbahn.

Morgens war Begehung, die örtlichen Würdenträger und -trägerinnen waren ebenso vertreten wie die regionalen. Sogar das Verkehrsministerium hatte einen Staatssekretär und den Umweltminister geschickt. Es war wohl kein anderer frei. Nach der Begehung kam das Büfett, und dann der große Augenblick: der Minister durfte die Starterlaubnis durchgeben. Alle guckten mit großer Erwartung durch die großen Fenster. Erstaunlich, immerhin gab es auf dem Flughafen eine halbe Million Starts pro Jahr. Für uns war es alles Routine.

Während die Anwesenden klatschten, weil die Maschine langsam auf Trab kam, schaute ich gar nicht hin. Ich unterhielt mich mit dem Staatssekretär, der das ganze – abseits der Kameras – wohl auch erfrischend langweilig fand. Das Raunen nach dem Klatschen irritierte mich allerdings. Und dann kamen die Entsetzensschreie. Ich drehte mich um. Alle Farbe war mit einem Schlag aus meinem Gesicht gewichen. Ein Unglück auf meiner Startbahn… ich war mir sicher, dass dort eine brennende Maschine stehen würde…

Doch ich sah nichts. Wirklich nichts. Und zwar überhaupt nichts. Das Flugzeug war nicht mehr da. Es führten auch keine Spuren nach links oder rechts, neben die Startbahn. Es flog auch nicht in der Luft.

Alles war hektisch. Leute liefen umher. Dutzende Mobiltelefone klingelten. Das Fernsehen ging auf Sendung – eigentlich war nur eine Aufzeichnung geplant. Ich schaute mir in einer Kamera noch mal das Geschehen an. Das Flugzeug war kurz vor dem Abheben – und im nächsten Augenblick verschwunden. Wie in einem schlechten Film, bei dem beim Schneiden etwas schief gegangen war. Ich fühlte mich auch so, als wäre ich in einem schlechten Film. Oder in einem schlechten Traum. Aber ich konnte nicht aufwachen…

Seit zwei Wochen steht die neue Startbahn leer. Es traut sich keiner mehr drauf. Der Flieger ist nicht mehr aufgetaucht. Märchenerzähler behaupten, das Flugzeug sei bei den Feen und könnte in 100 Jahren noch mal auftauchen. Oder nie. Bei Feen kann man sich nicht sicher sein.

Mehrere Aktionäre des Flughafens haben sich erschossen. Mittlerweile wird nur noch eine Bahn benutzt. Momentan möchten nur noch wenige Leute von hier aus fliegen. Viele weichen auf andere Flughäfen aus, obwohl das länger dauert. Angst tötet Eile.

Tja, und so ist die Geschichte, wie ich etwas im Wald verlor. Besser gesagt: dort, wo mal der Wald stand. Und jetzt eine leere Rollbahn.

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