Hohe Erwartungen (von Corinna Vanvlodorp)

Es war ein kleines Arbeitszimmer, wenn man es richtig bedachte. Viel zu klein für all die Schätze, die zu bergen es bestimmt war. Es zeugte von der wahren Sammelleidenschaft seines Besitzers und von seinem Mangel an Ordnung. Ungeordnet wie die Gedanken, so hatte er manchmal selbst festgestellt. Nein, Ordnung war nie seine grosse Stärke gewesen.Viel zu viele Dinge bahnten sich Weg durch seinen geplagten Kopf, wollten gefunden, untersucht und abgewogen werden. Wieviele Bücher musste er wälzen, um das zu finden, worauf seine Gedanken fussten, oder was sie widerlegen wollten. Offene Bücher von geduldigem Papier. Überall lagen sie im Raum verstreut. Der Atlas auf der alten Zeitung, daneben das Kochbuch gleich unter den CDs und neben dem Radiowecker, der die Zeit nicht mehr richtig anzeigen konnte und dessen Musik mehr an ein Krächzen erinnerte. Die Schubladen der Kommode aufgezogen, eines der Schubfächer hatte keine Front mehr sie stand daneben. Daneben heisst zwischen der Kiste mit den alten Glühbirnen und vor den Kontoauszügen, aber links vom Papierkorb, der nur halb voll war, denn der Rest des Papiermülls lag ja auf dem Boden, dort wo die Klebertube ihren Platz gefunden hatte, in einträchtiger Gemeinschaft mit Kaugummipapier, einem Ball und alten Socken. Neben all diesen Dingen, unsortierten Photos und wissenschaftlichen Aufsätzen, alten Kaffeetassen und Zangen, wofür auch immer er die gebraucht hatte, ruhten die geistigen Ergüsse von Jahren. In geduldigem Papier. Einen Teppich hatte das Arbeitszimmer im übrigen. Den konnte man jetzt sogar sehen, wo der geschlängelte Fusspfad zu dem Ort freigeräumt war, der sozusagen Zentrum und Herz des Raumes bildete. Dem Schreibtisch. Es war natürlich kein gewöhnlicher Schreibtisch. Es war DER Schreibtisch. Schon allein deswegen DER Schreibtisch, weil er eine Seele hatte. Und die war – wie es im Allgemeinen auch von Computern gesagt wird – bösartig, mindestens aber mysteriös und in unbestreitbarer Verbindung mit jenen unheimlichen Kräften stehend, die hinter dem Rücken des Suchenden die gesuchten Sachen einfach vom Erdboden verschwinden lassen. Auf diesem Schreibtisch, Spanplatte furniert, wiederum lag, unschuldig und geduldig, wie es so seine Art ist, das Papier. Es war ein Durchschnittspapier und das wusste es auch. Ausgesucht aufgrund seines günstigen Preises. (Genau genommen hatte er es heimlich aus dem Büro mitgehen lassen), aber immerhin war es weiss und unschuldig und unbeschrieben. Sozusagen noch zu allem fähig und voller Erwartungen. Aber geduldig- versteht sich. Und eigentlich und im Besonderen, zumindest erinnerte es sich manchmal daran, war es ja etwas aussergewöhnliches, auf seine Art. Sozusagen auserwählt. Welches andere Durchschnittspapier A4, weiss, 80g/m² konnte schon von sich sagen, dass es von einem Dichter erwählt war. Einem Literaten, gebildeten Künstler und kreativen Geist. Der es nehmen würde um darauf seine grössten Gedanken zu verewigen. Oder zumindest den einen oder anderen, oder aber Grundüberlegungen, die zu diesen führen konnten. Und immerhin war es Schicksal, das genau dieses Papier jetzt hier lag, auf dem Schreibtisch, unter einem echten Füller, wenn auch minderwertiger Qualität, erwählt, unschuldig, weiss. Sozusagen bereit. Erwartungsvoll und geduldig, versteht sich. Wenn auch inzwischen ein bisschen nervös. Aber das machte die Umgebung. Wenn man so als noch jungfräuliches Papier von einem Gräberfeld seiner Artgenossen umgeben war, dann konnte das schon ein wenig aufs Gemüt drücken. So an sich jedenfalls. Und anfangs hatte, so meinte das Papier sich zu erinnern, die Sache auch ganz schlecht ausgesehen. Immerhin hatte es ja seine Jugendzeit in der Buchbinderei einer Bibliothek verbracht und sich Tag um Tag und Nacht um Nacht, das blöde Gequatsche von den Büchern anhören müssen. Von Nietzsche und tief philosophischen Auswüchsen über die Bedeutung des Papiers als Buch in der Wissenschaft und wer da wohl und im eigentlichen in der Bibliothek völlig fehl am Platze wäre und vielleicht als Leihfristzettel oder noch schlimmer, Toilettentürhinweisschild, sein Leben aushauchen würde. Denn aushauchen, das war gewiss, musste jedes Papier sein Leben spätestens dann, wenn sein Inhalt zur Unwichtigkeit verkam. Was so einem Nietzsche ja nicht passieren konnte. Oder zumindest nicht so bald. Vielleicht war es genau zu diesem Zeitpunkt, in einer dieser endlosen Nächte gewesen, dass das Papier begonnen hatte an die Existenz eines höheren Wesens zu glauben. Gut, dieses höhere Wesen mochte auch für das Vorhandensein bestimmter besonders unliebsamer Bücher Verantwortung tragen. Aber vielleicht liesse es sich ja, durch die geeignete Appellation, also wenn man regelmässig bitten würde….

Tatsächlich hatte das Papier nicht damit gerechnet, dass der Retter in der Not, der Erlöser sozusagen, so aussehen würde. So ein heruntergekommener Student….Naja. Aber immer noch besser als der Reisswolf. Und der, so wusste jedes Papier, stand am Ende all jener wohl gehüteten geheimen geschäftlichen Karrieren, die so ein Papier machen konnte, wenn es eben nicht als Notiz oder Leihfristzettel endete. Dann das tun Papiere in einer Bibliothek. Ausserdem war die Geschäftskorrespondenz immer etwas sagen wir – eigen. So sind die Beamten nunmal. Doch dieses Papier, das wusste es ganz sicher in der Tiefe seiner Fasern, war anders. Es stammte von Bäumen, deren Hohe Wipfel die Sonne geküsst hatten und denen demzufolge die Pösie aus jeder Pore zu strahlen schien. Oder zumindest was ein Papier so an Poren hat. Und das, so war es voller Überzeugung, hatte den Dichter, denn ein Dichter war er ganz sicher, bewogen, es – und nur es – aus all den vielen Stapeln mitzunehmen.Anfangs hatte es sich ein wenig gefürchtet in diesem Arbeitszimmer. Voller staubiger Papierkadaver, die auch ihr inhaltliches Haltbarkeitsdatum längst überschritten hatten. Aber ihr Geist, so merkte es schnell, lebte weiter. Was waren das für angeregte Gespräche gewesen, die die Seiten miteinander geführt hatten, hier in diesem Chaos zwischen Zwiebelsuppe und dem bürgerlichen Gesetzbuch §13a, wenn es sich recht erinnerte. Es war sich aber nicht so sicher. Zwar lag er schon seit längerer Zeit aufgeschlagen, aber eine deutliche Staubschicht hatte seine Sprache bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Was hier aber kaum jemanden störte. Hier lagen Kinderbuchseiten neben dem aktüllsten aus Wissenschaft und Forschung, zumindest wenn man diesen Blättern glauben konnte. Und wie ER so jeden Tag in sein Arbeitszimmer kam, und sich mit einem von ihnen beschäftigte, wie ER neü Seiten aufschlug und hier und dort einmal etwas Neüs hervorholte, waren die Gespräche doch immer abwechslungsreich und spannend für das Papier, das sie geduldig aber erwartungsvoll verfolgte. Ebenso wie den Stapel Papier auf dem Schreibtisch, der immer kleiner geworden war in den letzten Tagen, und dem, nachdem das letzte Blatt als Brief an einen guten Freund die weite Reise nach Australien antreten durfte, es nun selbst achtsam und vorsichtig, an den mystischen Ort folgte, wo der grosse Geist die Ideen zur Welt brachte. Nicht, dass es in dieser Zeit nicht auch schreckliches gesehen hätte. Wie viele seiner Brüder waren zerknüllt zerrissen beschmiert, unter Schreien und Toben in den hintersten Ecken dieses Raumes verendet. Aber daran wollte es nicht denken. Es hatte IHM zugehört, so viele Nächte. Gelauscht, was für schöne und edle Gedanken sich durch seinen Kopf in den Füller und von dort aus weiter ihren Weg auf das Papier bahnten. Und es wusste, tief innen, dass es eine pötische Seele hatte, und er, er würde es erkennen können. Wenn er sich die Zeit nähme, sich einmal, nur einmal an diesen Schreibtisch zu setzen und es zu betrachten. Wie es so da lag. Unschuldig, weiss und geduldig. Wenn auch voller Erwartungen.

Aber ER kam nicht. Schon lange nicht mehr. Eigentlich wusste niemand, was so wirklich mit IHM los war. Ja, sie hatten die Stimmen gehört und das Schreien und das Weinen. Und sie hatten die Tür knallen gehört. Aber sie hatten das nicht verstanden. Später, ja später war ER noch mit einer Flasche in der Hand, taumelnd in den Raum gekommen. Er hatte gegen die Wände geschrieen, genauso, als wenn er SIE so erreichen könnte. Und als das nichts genutzt hatte, da hatte ER einen richtigen Wutausbruch bekommen. Hatte wie von Sinnen in das Regal gepackt und einen nach dem anderen der so sorgfältig durcheinander gestapelten Bände zu Boden geworfen. Das Literaturlexikon hatte sich den Buchrücken verstaucht und dabei diverse Überweisungsträger und auch das kleine lateinische Wörterbuch schmerzhaft unter sich begraben. Letzteres hatte sogar vor Schreck mehrere Seiten verloren. ER ruhte nicht, bis ER eine Kiste gefunden hatte, die ER dann, unter Tränen auf dem Boden sitzend, öffnete und weinend begann den Inhalt hervorzuholen. Das Papier konnte leider nicht richtig sehen, was dort auf dem Boden lag. Doch es müssen Briefe gewesen sein. Soviel konnte es noch erkennten. Bunte und weisse. Sie waren ein wenig erschrocken von dem Lärm und der plötzlichen Helligkeit, sie waren ja lange unter sich. Daher sprachen sie nicht so viel. Vielleicht hatten sie einander auch einfach schon alles erzählt, was sie wussten. ER hatte lange so da gesessen, die Briefe in Händen gehalten und geweint. Dann war ER aufgestanden und zum Schreibtisch gegangen. SEINE Hände hatten gezittert. ER brauchte lange, um sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Schob langsam und geistesabwesend die Stapel von CDs und alten Papieren, die Zange, zwei Filzer und den Bleistift bis an den Rand des Tisches und darüber hinaus; dass sie krachend zu Boden fielen und nur noch das Papier und der Füller dort lagen. ER hatte das Papier angestarrt und den Füller zur Hand genommen. Das Papier hatte sich gereckt und geglättet, seine Kanten gespannt und erwartungsvoll den Atem angehalten. Es präsentierte sich in aller Schönheit seines Daseins, den ganzen Glanz, die ganze Pösie, die der Baum aus dem es war mit jedem Sonnenstrahl in sich aufgenommen hatte, all das sollte nun aus seinem ganzen Dasein leuchten all das hatte es bereitgehalten nur für diesen einen Augenblick. Den Moment, wo ER den Füller zur Hand nehmen würde und beginnen würde SEINE grössten Gedanken darauf zu schreiben oder vielleicht auch SEINE tiefsten und schmerzhaftesten.

Und so lag es nun da, ganz still und umsichtig und wartete, wie der Dichter immernoch mit zitternder Hand langsam den Verschluss des Füllers abnahm, den Füller betrachtete, dann das Papier anblickte, die Hand neigte, den Arm ausstreckte und….inne hielt. Inne hielt und nichts tat. Aber ER sah es nicht. Statt dessen blickte ER über das Papier hinaus – ins Leere. Der Füller fiel aus seiner Hand, vereinzelte Tintenspuren hinterliess er auf dem Schreibtisch, wenn auch das Blatt unberührt blieb. Dann fiel er, rollte langsam von der Tischkante auf den Boden.Das Papier war bestürzt. Mehr noch als vorher streckte es sich erwartungsvoll dem Dichter entgegen. ER müsste es ja nur versuchen. Alleine schon wenn die Tinte es berühren würde, wenn dieses herrliche Gefühl von dem Sift auf die Seiten fliessen würde, was für ein Erlebnis, was für grossartiges Werk würde es werden! Wenn ER doch nur hinsehen würde! – Der Dichter aber sah immer noch nichts. Er hatte den Kopf in die Hände gelegt und weinte. Und die Tränen rollten seine Handflächen hinunter bis sie sich in den Ärmeln des Hemdes verloren. So sass ER sehr lange. Dann, Stunden mochten vergangen sein, seufzte ER auf und erhob sich mühsam von seinem Bürostuhl. Seine Augen waren rot und schmerzten und sehen konnte ER auch nicht mehr viel. Und so schob ER den Stuhl zurück und bahnte sich, immer noch leise schluchzend langsam seinen Weg aus dem Zimmer, löschte das Licht ohne sich umzublicken, und ging.

Und das Papier? Das Papier lag noch an seinem Platz. Weiss und unschuldig lag es da und versuchte zu begreifen, was ihm so eben wiederfahren war, zu begreifen und geduldig zu warten. Denn weinen können Papiere nicht.

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