Tag nach Tag

Manchmal denke ich, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt. Dann
wieder schaue ich nach unten. Dort, im Nebel, sind viele Häuser, sind
Menschen, sind Geschäftigkeiten, Befindlichkeiten, Wünsche, Träume,
Solls, Habens, Neid und Lust. Dort sind Wohnhäuser, Miethäuser,
Fabriken, Sporthallen, Büchereien, Fleischereien, Ateliers,
Gaststätten, Hotels, Bürogebäude und Einkaufszentren. Es gibt junge und
alte, große und kleine, dunkle und helle, dicke und dünne, benötige und
nutzlose, gewünschte und ungewollte, verspielte und ernste, sinnvolle
und sinnlose. Nur mich gibt es dort nicht, denn ich bin hier, oben auf
meinem Berg, aufgestiegen – oder sind die anderen versunken. Und ich
weiß nicht, ob ich nach unten will.

Manchmal fällt Schnee herab, manchmal wagen sich kleine Wolken
zwischen mich und die dort unten. Wenn alles bedeckt ist, wenn nicht zu
sehen ist, frage ich mich, ob ein Leichentuch die Welt abdeckt, ob
alles tot ist dort unten und ich der einzige, der noch lebendig ist –
oder ist das Tuch ganz anders rum, liegt es über mir, ist dort das
Leben?

Gestern sammelte ich Tiere. Es gab geschwätzige Papageien,
lethargische Flusspferde, springende Kängurus, quakende Frösche,
huschende Eidechsen, springende Zebras, gigantische Elefanten, heulende
Wölfe, geschmeidige Katzen, helfende Hunde, freche Affen, schleimige
Schnecken, ästhetische Netzspinnen, schlängelnde Kreuzottern, kuckende
Kuckucks, buddelnde Maulwürfe, schnuppernde Hasen, wollüstige Kaninchen
und melancholische Mehlmotten. Wir warteten auf die Flut.

Niemals kommen die Zeugen Jehovas, nie ein Paketbote oder ein
Vorwerk-Vertreter. Es kommt kein Polizist, kein Trickbetrüger, kein
Bettler und kein Pizzabote. Freunde und Feinde, Verwandte und Bekannte
klingeln nicht.

Sie boten mir Geld an, damit ich von zuhause wegziehe. Sie
boten aber nicht viel. 40 Jahre hatte ich in meinem Haus gelebt, eine
Ewigkeit – und das Geld, das sie mir boten, reichte nicht, um ein neues
Haus zu kaufen. Da lehnte ich ab. Sie blieben hartnäckig. Sie sagten,
dass ich nicht darauf hoffen sollte, dass mir jemand hilft, denn alle,
die mir zu helfen vermochten, seien auf ihrer Seite. Doch ich blieb
standhaft. Da rissen sie die Häuser ein, die um mein Haus herum war,
sie buddelten tiefe Gräben in alle Gärten, sie entfernten alles –
Stein, Erde, Holz, Metall. Dann war ich allein. In 10 Meter Höhe war
ich allein, ich und mein Grundstück, mein Garten, mein Haus. Es gab
keinen Weg herunter. Nur eine Strickleiter hatte ich. Doch unten gab es
keine Wege mehr, nur Bagger. Doch ich blieb standhaft. Und so lebe ich
allein, manchmal kommen Leute – Freunde, ehemalige Nachbarn – sie
bringen mir etwas zu essen. Sie hängen es an ein Seil, dass ich
herunterlasse. Auch sie riskieren viel, denn man könnte ihnen alles
wegnehmen, was sie für ihre Häuser bekommen haben. Doch ich bleib
standhaft, bis dass sie einlenken oder der Tod mich holt.

Einst hatte ich ein Haus mit Garten, neben anderen Häusern mit
und ohne Gärten. Mein Pflanzen wuchsen bescheiden. Da kamen dann Leute,
die rieten mir – Experten und vermeintliche Experten. Der erste riet
mir, die Pflanzen mehr zu wässern. Ich wässerte, und einige meiner
Pflanzen ertranken. Der zweite sagte mir, ich müsste besser düngen. Ich
düngte und düngte, bis mein Rücken wehtat von der körperlichen
Anstrengung, doch die Pflanzen dankten mir nichts, im Gegenteil gingen
einige von ihnen ein, denn es war der falsche Dünger. Da hatte ich
genug. Ich rief ein Spezialfirma an. Sie legten meinen Garten in Eisen.
In zwei Meter tiefe ein dicke, tragfähige Schicht, an den
Grundstückgrenzen durch den ganzen Boden bis zu dieser Schickt
stählerne Wände. Dann wurde langsam das Grundstück hochgehoben, mit 2
Kränen, bis schließlich ein zwei Meter hohes Loch entstand, über dem
mein Grundstück schwebte. Schwere Hydraulische Geräte wurden
angebracht, und dann, nach nur 10 Minuten, wurden mein Garten, mein
Haus und ich selber nach oben gehoben. Wir fuhren der Sonne näher und
näher. Und seitdem blüht und gedeiht mein Garten mehr als jeder andere
im Umkreis. Wenn ich zu den anderen hinabschaue, sehe ich nur Verderben
und Tod. Wenn ich meinen Garten betrachte – den sie nicht betrachten
können, sehe ich das pralle Leben. Jeden Tag nahezu muss ich Rassen
schneiden, ernte ich Tomaten und öffnen sich wunderschöne Blüten. Nach
unten könnte ich mit einem Aufzug, doch nichts drängt mich nach unten.
Hier ist es schön, hier gedeihen wir prächtig – und dort unten liegt
das Elend.

Meine Schwiegertochter ist eine Hexe. Ich wusste es schon
immer. Habe ich nicht alles für sie getan? Habe ich ihr nicht ein Haus
besorgt, direkt in der Nachbarschaft? Habe ich mich nicht um die Kinder
gekümmert, wenn sie mal wieder versagt hat? Alles haben sie von mir.
Mein Sohn hat den Job bekommen, weil ich meine Beziehungen habe spielen
lassen. Die Kinder sind auf einer der besten Privatschulen des Landes.
Ich war immer für sie da. Ich habe einen Gärtner geschickt, wenn ihr
Garten unordentlich war. Immer stand ich zu ihrer Seite, immer hatte
ich einen Rat, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Kochen, Putzen,
Dekorieren – alles lernte sie von mir. Und jetzt bin ich hier oben.
Unnahbar, unerreichbar. So undankbar.


Die ganze Welt entgleitet mir. Ich will die Nähe, doch ich spüre die Weite. Hoch über allem, erhoben. Nebel umgleitet die Tiefe.

Lag unter Cyan. Im Nebel tausend heulende Erynnen. Sehend kam
Yvonne wegen ihres trauten Heimes. Doch ich antwortete: mein Organ?
Niemals! Da, sieh! Farben durchwogen das Zimmer, den Raum, die Weite,
die Leere, die Nähe, die Ferne, das Ganze.


Tag für Tag

Alleine auf dem Hügel

Stand ein Mann

Völlig still

Er lauschte

Und sie lauschten nie

Sie nannten ihn einen Narren

Doch sie wussten nicht, das sie die Narren sind.

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