Die Jesus-Story

Als ich morgens aus dem Haus trat, lag Jesus leblos vor der Haustür. Und damit begann in ein absonderliches Kapitel in meinem Leben:

Die Jesus-Story

Verwunderlich allein ist schon die Tatsache, dass ich ebenfalls schon tot sein sollte. Ich erinnere mich wie gestern. Es war ein glücklicher Tod, wenn man überhaupt einen solchen glücklich nennen kann: umgeben von den Liebsten, gestorben allein durch das Alter.

Ich schweife ab.

Neben der Leiche stand mein Freund Sherlock Holmes. Neben ihm wiederum stand ein Mann mittleren Alters, der eine Art weißen Rock trug. Zusammen mit seinen wuschligen Haaren und dem – wenngleich kurzen – Bart ergab das einen etwas verwahrlosten Eindruck. Er sah dem Toten übrigens ähnlich – nicht überraschend, wie sich herausstellte. „Guten Tag, ich bin Jesus.“ Aus einiger Entfernung rief jemand: „Sind wir das nicht alle?“ Und dann kam Gelächter.

Ich blickte mich um:  Strahlend blauer Himmel, eine etwas zu rote Sonne, keine Wolken. Es war ein Tag wie im Paradies – und ich muss das Wissen. Auf der Ebene gab es nur ein einziges, sehr großes Haus, aus dem ich getreten war. „Jesus-Haus“ stand über der großen Eingangspforte (ich hingegen kam aus einer Nebentür). Vor dem Haus waren Unmengen an Tischen, Stühlen, Sesseln, Teppichen, Kissen und anderen Sitzgelegenheiten – außerdem eine Vielzahl von Dingen, die ich nicht kannte, auf und vor denen aber auch … Wesen saßen. Es gab einige Menschen, aber auch viele, die nicht menschlich sein konnten. Diejenigen mit ungewöhnlicher Hautfarbe, einem oder zwei Augen  oder Gliedmaßen zu viel waren noch harmlos. Halbwegs humanoides oder immerhin von der Erde gewohntes Aussehen – das konnte ich beinahe akzeptieren. Aber diese… Es gab einen, der wie ein Kegel geformt war, 10 Fuß im Durchmesser und ebenso hoch. Ein Wesen von fast Menschengröße besaß graugrüne, feuchtglitschige Haut, der Kopf erinnerte an den eines überdimensionierten Fisches. Seine Hände – falsch, seine Klauen, waren mit Schwimmhäuten ausgestattet. Es hopste und quakte fröhlich vor sich hin. Am schlimmsten jedoch war ein gallertartiges, schwarzes Zellgewebe von mindestens 5 Meter Ausmaß. Unentwegt wuchsen und verschwanden Gliedmaßen, Tentakel und andere Auswüchse aus ihm heraus. Ich wendete mich ab.

Am Haus hingen einige Banner. Das größte sagte aus, dass hier der 1849. Jesus-Kongress abgehalten wurde. Andere trugen banalere Aufschriften: „Marx ist tot, Jesus lebt.“ „Jesusse aller Welt vereinigt euch“ oder eine Karikatur mit 2 Menschen. Darunter stand „Ich bin Jesus.“ und „Sind wir das nicht alle?“

Holmes hockte während dessen vor dem Toten. Er untersuchte ihn gründlich, drehte ihn auch mehrfach um. Dann erhob er sich. Ich fragte: „Holmes, schön Sie wieder zu sehen.“
„Die Freude, Watson, ist ganz auf meiner Seite.“
„Holmes, warum sind wir hier?“  
„Ist das nicht offensichtlich, Watson? Für diesen Fall braucht man den größten aller Detektive. Und das bin nun mal ich.“
Jesus räusperte sich: „Hmm, nun ja, das stimmt nicht so ganz. Die meisten hier waren ja eher für Nero Wolfe, aber wir fürchteten um das Büffet. Und Pater Brown kam auch nicht in Frage, weil unser Vater und sein Arbeitgeber nicht einer Meinung sind. Die größte Detektivin ist natürlich Miss Marple, aber einige wollten hier keine Frauen…“

Holmes fragte schnell: „Wer hat ihn gefunden?“
Jesus antwortete: „Das war unser Freund Jesus dort.“ Er zeigte auf einen Ball. Dieser hüpfte aufgeregt. „Leider ist er nicht der Sprache mächtig.“ Ehrlich gesagt sah er auch nicht so aus, als wäre er zu einer Gewalttat fähig und schied sofort als Verdächtiger aus.

„Und wie lange hat er hier gelegen, denken Sie?“ Jesus entgegnete: „Du kannst mich übrigens duzen. Dieses ganze Siezen ist doch Blödsinn.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Zeit ist für uns nicht so bedeutsam. Ein Zeitbegriff würde sie nur verwirren.“

Sherlock Holmes wechselte das Thema: „Was tun Sie hier eigentlich?“ Diese Frage stellte ich mir schon länger.

Jesus antwortete: „Ein ganz normaler Kongress. Wir erzählen unsere Erfahrungen. Vor allen die Jung-Jesusse, die noch nicht gestorben sind, sind sehr wissbegierig. Für sie gibt es einen Einführungsvortrag mit dem Titel ‚Warum das Ganze‘. Die Gewerkschaft fordert wie immer geringere Leidenszeit und keine peinlichen Steinigungen mit Essiggurken mehr – wobei die sowieso sehr selten sind. Zum Abschluss des offiziellen Teils dann das jährliche Gedenken an Nazareth. Da begann unsere Erfolgsstory. Nachdem offiziellen Teil essen wir dann und reden miteinander. Meistens sind es die üblichen Anekdoten. Wie der Jesus auf Andromeda mit der Maria Magdalena durchgebrannt ist. Das irgendeiner von uns sich doch mal Rom angucken sollte. Oder die Sache mit dem Jesus und dem Esel auf Epsilon 3. Halt das übliche.“

Holmes zog mich zur Seite und bedeutete Jesus, dass wir eine kurze Zeit alleine brauchten. „Watson, das ist mein größter Fall, und ich glaube, dass ich ihn gelöst habe. Sie müssen diesen Fall ihren Aufzeichnungen hinzufügen.“ „Holmes, ich kann das alles nicht glauben.“ To see is to believe („Zu sehen ist zu glauben.“) Von etwas weiter kam eine Stimme „You get what you see.“ („Du kriegst was du siehst.“) Und eine weitere: „der Spruch ist doch spätestens seit dem Trojanischen Pferd out.“

Privatsphäre gab es wohl nicht. Wir traten wieder auf Jesus zu.

 „Eine Frage habe ich noch.“ Sherlock Holmes schaute in das weite Rund, auf die sehr verschiedenen Jesusse, auf die Einrichtung. „Warum sieht das alles so menschlich aus, beinahe irdisch?“ „Oh, das ist einfach“ sagte unser Jesus. „Nur die Menschen haben diese großartige Erfindung gemacht.“ Er nahm ein mit Fleischstücken und Salat gefülltes Brot. „Den Döner. Jeder mag Döner.“ Von links keifte ein älterer, kleiner Jesus: „Das ist nicht koscher!“ „Na gut, fast jeder.“

Holmes schwieg. Er spielte mit seiner leeren Pfeife. Dann plötzlich sagte er: „Ich werde ihnen jetzt den Mörder nennen.“ Plötzlich kam Bewegung in die vielen Jesusse. Es müssen Millionen Augen gewesen sein, die plötzlich auf Holmes schauten. Er ließ sich nicht beeindrucken.

Sherlock Holmes zeigte auf einen langhaarigen Jesus in der Menge: Er zog, wie es zu diesem Zeitpunkt üblich war, den Satz in die Länge: „Und dort … ist … der Mörder: Ergreift ihn.“ Der Beschuldigte wollte flüchten, doch der heilige Zorn war über die Menge gekommen. Er wurde von mindestens 6 Jesussen – einige davon mit Tentakeln – nach vorne gezogen.

„Mein Sohn, der lange Schlaf, welcher der Tod nun ist, muss dich noch in seinem Bann haben. Wir Jesusse können gar keinen töten. Es liegt an den Genen.“ Holmes lächelte und schüttelte den Kopf. „Aber er ist Jesus!“ rief Jesus. Von mehreren Seiten kam „Sind wir das nicht alle?“

Holmes lächelte weiter. „Natürlich war er es.“ Er riss dem Jesus die Haare vom Kopf – es war augenscheinlich eine noch nicht einmal gut gemachte Perücke – und hielt sie an sein Kinn. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Der so Skalpierte riss sich los. Er sagte laut: „Sie können mir nichts beweisen!“ Holmes hielt ein Buch hoch. Auf dem Einband stand: „Das Kapital“. Der Verdächtige schrie: „Natürlich war ich es. Dieses dauernde Gestichel, die Reden – selbst da“ er zeigte auf das Spruchband, dass mir schon zu Anfang aufgefallen war. „Marx ist tot, Jesus lebt – das ist doch Humbug. Ich lebe, und ich werde den Massen helfen, sich zu erheben.“

„Quod est demonstrantum.“ Holmes steckte sich seine Pfeife an und begab sich auf die Suche nach Kokain. Was die Jesusse mit Marx anstellten? Ich weiß es nicht. Ich ging wieder zum Haus. Und in dem Moment, an dem ich die Schwelle übertrat, empfing mich der gnädige Tod.

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