Versinken in der grauen Maße – oder: der durchschnittliche Deutsche

Ich möchte meine Geschichte mit einem Zitat von Horst Evers beginnen. Zitat ist ja so was wie klauen, aber dann sagen, das man es war.

Dienstag 7:00 Uhr

Das war schon das Zitat.

Also: Dienstag 7:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Das ist schon mal schlecht.

Moment, ich muss jetzt noch was erklären. Tendenziell habe ich gar nichts gegen Wecker, aber in diesem Text ist das jetzt ein bisschen doof, dass der Wecker um 7 Uhr klingelt. Vor kurzem hat der Spiegel mittels diverser Statistiken die Deutschen beleuchtet. Das waren Statistiken von „7% der Männer würden mit der Partnerin des besten Freundes ins Bett gehen, aber nur 1% der Frauen“1 oder halt „62% der Männer sind der Meinung, Frauen mit Kindern sollten nicht mehr arbeiten gehen“. Gleichzeitig sind übrigens 68% der Männer der Meinung, Gleichberechtigung würde unsere Kultur ausmachen. 64% glauben das gleiche von Freiheit. Anders gesagt: entweder sind Männer nicht zufrieden mit unserer Kultur, oder die Frauen dürfen halt frei und gleichberechtigt entscheiden, zuhause zu bleiben.

Dabei waren dann auch zeitliche Angaben: wann stehen Deutsche auf, wann schlafen sie ein, wie viel Minuten verbringen sie am Telefon damit, ihre Mutter abzuwimmeln.

Dienstag 7.00 Uhr. Der Wecker klingelt. Das ist schon mal schlecht. Als durchschnittlicher Deutscher hätte ich schon um 6.23 aufstehen müssen. Das ärgert mich jetzt schon. Kaum ist man wach, schon ist man 37 Minuten von seinen Zielen entfernt. Ich schaffe noch nicht mal die Grundlagen.

Dienstag 7.05 Uhr. Vor lauter Grübeln noch mal 5 Minuten verloren. Bin theoretisch schlecht gelaunt, aber 75% der Deutschen gehen zuversichtlich in den Tag. Nötige mich zu einem Lächeln.

Dienstag 7.10 Uhr. Am Frühstückstisch. Meine Frau ist schon beinahe mit dem Essen fertig und strahlt mich an. Sie ist durchschnittlicher als ich, glaube ich. Greife zum Müsli. Im letzten Moment zuckt meine Hand zurück. Deutsche essen kein Müsli, Deutsche essen Graubrot oder Vollkornbrot. Mist. Da soll man noch zuversichtlich bleiben? Die Graubrotscheibe ist mindestens eine Woche alt. Wir essen nur wenig Brot. Und Aufschnitt ist auch nicht da. Wie viele Deutsche vergessen eigentlich Aufschnitt zu kaufen? Gibt es dafür auch eine Statistik?

Vor dem Bissen ins Brot muss ich noch Radio anmachen. Wir haben gar kein Radio.

Dienstag 7.30 Uhr. Endlich: Auf dem Dachboden ist noch ein alter Weltempfänger.

Dienstag 7.35 Uhr. Batterien sind eingelegt. Im Radio kommt der Kleine Nils. Den hält man auch nur für einen Jungen, wenn man durch ein Telefon mithört. Zuversicht schwindet langsam.

Wenn jetzt noch das neueste Lied von Dieter Bohlen kommt, wandere ich aus.

Dienstag 7.37 Uhr. Nein, es ist Stefan Raab. Eigentlich doch ein Grund zum Auswandern. Ich bleibe aber. Erstens wandert keiner aus Deutschland mit leerem Magen aus, und zweitens muss ich noch Radio hören und zwischen 15 und 30 Minuten frühstücken. Gar nicht einfach mit einer alten Scheibe Brot.

Greife zur Zeitung. Lege sie wieder weg. Zeitungen sind nicht mehr in.

Dienstag 7.40 Uhr
Lese die Packungsbeschreibung des Müslis. Darüber steht zwar nichts in der Statistik, mir ist aber langweilig.

Dienstag 7.50 Uhr
Bin jetzt schon zu spät. Muss aber noch ins Bad.

Dienstag 8.01 Uhr
Der durchschnittliche Deutsche verbringt 24 Minuten im Bad.
Geduscht, Geföhnt, gekackt. Zähne sind auch schon geputzt.
Mist, noch 13 Minuten. Was machen die alle im Bad, nachdem die schon 15 Minuten gefrühstückt haben? Kommen deswegen alle zu spät zur Arbeit? Wahrscheinlich frühstücken die meisten im Bad, um nicht zu viel Zeit zu verlieren.

Dienstag 8.05 Uhr
Beginne die Kacheln mit Zahnpasta zu beschmieren und das dann mit Klopapier wegzumachen. Gut, wenn man was Sinnvolles zu tun hat.

Dienstag 8.10 Uhr
Klo ist verstopft

Dienstag 8.20 Uhr
Endlich unterwegs. Jeder Deutsche Autofahrer steht durchschnittlich 150m pro Tag im Stau. Verdammt, wo soll ich jetzt den Stau hernehmen? Vor allem habe ich nur 3km zur Arbeit.

Dienstag 8.30 Uhr
Zu spät auf der Arbeit. Chef guckt schon komisch.
Sage ihm, dass ich heute nicht so viel arbeiten werde. Durchschnittlich arbeiten deutsche Erwerbstätige 30,3 Stunden und nicht wie ich 38 Stunden. Das sind täglich anderthalb Stunden Unterschied. Chef sagt: „Dann hast Du ja die letzten 5 Jahre viel zu viel gearbeitet, möchtest Du mal ein Jahr aussetzen?“ Sage meinem Chef, dass 85% ihren Arbeitsplatz für sicher halten. Chef sagt: „Ja, sie halten Ihn für sicher.“ Chef hat keine Ahnung von Statistiken.

Dienstag 8.40 Uhr
Den meisten Deutschen ist langweilig auf der Arbeit.

Jährlich entstehen übrigens  4,3 Mrd Schaden durch Unterschlagung, Betrug, Diebstahl und Betriebsspionage durch eigene Mitarbeiter. Bei 43 Millionen arbeitenden habe ich da Anspruch auf 1000 Euro im Jahr. Pro Arbeitstag beinahe 5 Euro. Stecke mir einen Kugelschreiber und eine Tintenpatrone ein, habe den gleichen Drucker zuhause. Tintenpatrone ist 7 Euro wert. Ich lege 2 Euro auf meinen Schreibtisch, man will ja nicht zu viel nehmen.

Ist doch gar nicht schlecht, Deutscher zu sein.

Dienstag 17.00 Uhr
Verlasse die Arbeit. War ein bisschen lang, dafür habe ich 2 Stunden einfach nix gemacht. Das gilt denke ich auch.

Nehme unsere Sekretärin mit, da ihr Auto wieder mal streikt. Das passiert laut ADAC auch häufiger, nur nicht bei ihrem Mitsubishi Colt. Also eher ein Einzelfall. Oder der Wagen glaubt aufgrund seines Namens, er wäre ein Ford, dann darf er Pannen haben. Ford Colt klingt gut, der Wagen lauert mit Schiesseisen hinter einem Bush. Oder so.

72% singen regelmäßig beim Autofahren. Wie ging noch mal „We will rock you“? „Body of a dings…“
Sekretärin will aus dem Auto springen. Höre auf zu singen. Gibt keine Statistik darüber, wie lange gesungen wird. Wahrscheinlich solange, bis die Mitfahrer mit Sachen werfen.

Komme zuhause an. Frau fragt: „Warst Du einkaufen?“ Verdammt, zurück ins Auto. Die meisten Deutschen kaufen direkt nach der Arbeit ein.

Dienstag 17.30 Uhr
ALDI. Ein bisschen Brot – unnötig, morgen bin ich ja nicht mehr Durchschnitt – 10 Eier, Milch. An die Kasse. Kasse ganz leer. Stop: durchschnittlich brauchen Deutsche 18 Minuten für das Einkaufen. Was machen die da? Gehe zu den Aktionswaren. Brauchten wir nicht noch einen Rasentrimmer? Und den Nasenhaarschneider…

Dienstag 17.45 Uhr
Gehe zur Kasse. Die Schlange ist mittlerweile beinahe bis zur Tiefkühltheke. Nur eine Kasse ist auf.

Dienstag 18.00 Uhr
Hier habe ich gemogelt. Es ist eigentlich 17:59 Uhr, das wirkt aber nicht so.
Stehe schon seit 15 Minuten an. Dann bin ich endlich dran. Ist doch ein bisschen teurer geworden. 110 Euro. Habe nur 5 Euro für die Eier, das Brot und die Milch mit. Frage, ob ich anschreiben lassen kann. Verkäuferin verneint. Dann kann ich nicht zahlen. Verkäuferin sagt, ich soll die Sachen zurückbringen. Sage: das geht nicht, dann komme ich noch mehr in Verzug. Dann türme ich. Demnächst also LIDL.

Dienstag 18:10 Uhr
Essen ist angebrannt, weil ich solange einkaufen war. Frau fragt, warum ich solange für Eier, Brot und Milch brauche. Sage: wegen den Nasenhaaren. Frau guckt mich komisch an. Sagt dann aber nichts mehr, auch nicht beim Essen. Ist aber gut so: Ein Ehepaar spricht 15 Minuten pro Tag miteinander, davon 10 im Bett. Da haben wir nur noch 2 Minuten außerhalb des Betts.

Dienstag 18.30 Uhr
Vorm Fernseher. Der durchschnittliche Deutsche guckt 220 Minuten Fernsehen.

Dienstag 18.40 Uhr
Warum???

Dienstag 18.50 Uhr
Frau ist langweilig, will reden: Ich sage: wir haben nur noch 2 Minuten. Frau sagt: ist egal.

Wenn wenigstens Wochenende wäre. Dann könnte man Formel 1 oder Springreiten gucken, und Frau würde sofort einschlafen. Ich halte Wochenende sowieso für eine bessere Erfindung als die Woche.

Gehe aufs Klo. Bleibe dort eine Stunde. Vielleicht ist Fernsehen nur, dass der Fernseher läuft, man muss gar nicht dabei bleiben. Tröstender Gedanke. Vielleicht werden die ganzen Talk- und Quizshows gar nicht gemacht, damit das einer guckt. Das machen alle nur an, aber keiner guckt zu. In Wirklichkeit sind die Moderatoren Psychologen und die Gäste ihre Patienten. Und damit das Gesundheitssystem das tragen kann, sendet man es im Fernsehen. Wenn ich mir das richtig durchdenke, komme ich zu einem entscheidenden Schluss: ich müsste auch mal zum Psychologen…

Dienstag 19:50 Uhr
Darm leer. Frau verschwunden. Spielt oben mit unserer Spielkonsole. Möchte auch gerne spielen. Aber die Pflicht ist dann doch stärker: setze mich vor den Fernseher.

Dienstag 22:30 Uhr
Wecker klingelt. Kann mich an nichts mehr erinnern. Hat der Jauch den Bullen von Tölz ermordet? Hatten Stromberg und Uschi Glas eine verbotene Liebe? Hat Dr. House das entscheidende Tor geschossen? Fragen über Fragen. Weiß nur: bin schon wieder 20 Minuten über der Zeit.

Dienstag 22:40 Uhr
Stehe vor dem Bad. Meine Frau hat gute Laune. Warum, weiss ich nicht. Wahrscheinlich, weil sie nicht mitgeguckt hat. Schaut aber komisch, als ich sie frage, ob sie mir die Zahnbürste und Zahnpasta geben kann. Darf ja nicht mehr ins Bad, da ich heute morgen schon alle Minuten ausgegeben habe.

Dienstag 22:43 Uhr
Zähne sind geputzt. Wie jetzt den Mund ausspülen? Soll ich von der Tür ins Waschbecken spucken? Gehe lieber in die Küche.

Dienstag 22:47 Uhr
Riesenerfolg: ich bin pünktlich im Bett. Tja, am Ende des Tages habe ich das dann doch geschafft.

Jetzt wollen wir noch Sex haben. Mein Schatz ist schon ganz heiß drauf. Ich muss noch den Wecker stellen. Im Durchschnitt lassen sich Deutsche 18,5 Minuten Zeit für Vorspiel und 17,6 Minuten für den eigentlichen Geschlechtsverkehr. Mit insgesamt 36 Minuten liegen sie damit weltweit nur im Mittelfeld. 36 Minuten. Dann wäre aber schon 23:23 Uhr. Deutsche schlafen aber schon um 23:04 ein. Außerdem muss ich noch 16 Minuten lesen. Außerdem müssen wir ja noch 10 Minuten reden. Frage meine Frau, ob ich beim Vorspiel lesen darf. Meine Frau ist sauer. Die Schimpfkanonade dauert 9 Minuten und 6 Sekunden. Ich lese währenddessen. Jetzt brauchen wir nur noch 54 Sekunden reden. Ich sage, dass es mir leid tut, und dass ich ja nur durchschnittlich sein will, und… Frau schläft sofort ein. Gucke auf die Uhr: 23:04 Uhr. Habs ja gesagt: meine Frau ist durchschnittlicher als ich.

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