Narrativum

Es wird hinsichtlich Querdenker und AfD hin und wieder vom Narrativum gesprochen, dass man bloß nicht bedienen sollte.
Die Warnung ist übrigens berechtigt: wenn man die gleiche Worte verwendet, ergibt sich bei Zuhörern leicht der Eindruck, dass auch die Gedanken dahinter zusammenpassen könnten.
Dennoch wollte ich mal drauf hinweisen: man sollte auch auf der anderen Seite stark aufpassen.
Beispiel: Lockerungen / Freiheiten in Zusammenhang mit Corona-Einschränkungen.
Das klingt so ein bisschen nach „Mutti ist zufrieden und lässt die Zügel locker“, also positiv für die Regierungen. Da steckt sehr viel Wertung drin. Tatsächlich ist es ja eine Aufhebung von Freiheitseinschränkungen.
Was mich aber besonders interessiert, ist das Wort Neid.
Neid ist ein tolles Wort. Neid wird immer wieder gebracht, wenn es eigentlich um Ungerechtigkeiten geht, z.B. bei Ungleichverteilung von Reichtum.
Man ist „neidisch“ auf die Reichen, und das ist schlimm, weil Todsünde laut Bibel.
Gleichzeitig gibt es aber Leute, die gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen sind, wo Leute ohne Gegenleistung Geld bekommen. (Spoiler: kriegt man bei Hartz 4 fast auch) Da spricht dann aber keiner von Neid…
Neid wird jetzt auch Leuten vorgeworfen, die gegen Aufhebungen von Beschränkungen für Genesene und Geimpfte sind.
Das Wort Neid wird gefühlsmässig immer dann gebraucht, wenn es um eine Abwertung von Bedürfnissen geht.
Im Wikipedia steht leider ohne Quelle: „Neid ist das böse Wort, das die Reichen für den Gerechtigkeitssinn der Armen verwenden.“
Und es wurde historisch immer gerne gebraucht, um Bestrebungen nach Gerechtigkeit zu hintertreiben.
Momentan halt: die noch nicht Geimpften sind neidisch darauf, dass die Geimpften früher Rechte zurückerlangen.
Erstmal muss man dann unterscheiden zwischen der logischen und der emotionalen Seite.
Auf der logischen Seite kann man recht leicht dahinter kommen, dass es sinnvoll ist,

  • Menschen zuerst zu impfen, die ein erhöhtes Risiko tragen (Alte, Lehrer, selbst Leute mit hohem BMI)
  • Menschen dann auch wieder die Rechte zurückzugeben,
    — weil sie einfach nicht mehr Risiko für andere bedeuten (weswegen die Rechte eingeschränkt wurden)
    — weil sie damit Wirtschaftszweige, die momentan besonders leiden, stützen können statt nur Netflix und Amazon
    (Argumente dagegen gebe ich jetzt nicht, dass habe ich die Tage schon mal gemacht)
    Trotzdem kann man auf der emotionalen Seite Neid verspüren, weil man selbst halt nicht dazu gehört.
    Und gerade bei jungen Leuten kann ich verstehen, wenn sie Ungerechtigkeit spüren:
  1. Die ganzen Corona-Maßnahmen sind wegen der Älteren gemacht worden. Auch junge Leute können Long Covid bekommen oder sterben, aber das hätte nicht zu irgendwelchen Maßnahmen geführt.
  2. Die jungen Leute kriegen den Schutz noch nicht.
  3. Die alten, die den Schutz bekommen, haben dann auch noch mehr Rechte.
    Was ich jetzt mehrfach gelesen habe, ist, dass Leuten der Neid vorgeworfen wird. Das ist IMHO aber nicht zielführend, da man Ihnen tatsächlich berechtigte Emotionen vorwirft.
    Es ist ungerecht.
    Die Frage ist nicht, ob diese Emotion empfunden wird, sondern wie damit umgegangen wird. Und das einfache Schlechtreden durch Kommentatoren hilft keinem, außer vielleicht ein paar Selbstgefälligen.
    Was helfen würde, wäre, wenn man Ungerechtigkeiten möglichst verringert. Wenn eine klare Priorisierung über die Bevölkerung hinweg zu erkennen ist, sie kommuniziert und durchgehalten wird, dann ist es einfacher.
  • Wenn aber in Rheinland-Pfalz schon geimpft wird, was noch nicht aufm Baum ist, während in Hamburg noch 70jährige warten
  • Wenn in manchen Firmen nur die Leute, die kritische Infrastruktur unterstützen, Priorität bekommen, in anderen aber einfach jeder, der will
  • Wenn genau der Typ, der trotz Hochrisikogruppe ne Fete geschmissen hat, und nach seiner Impfung dann seine wiedergewonnene Freiheit raushängen lässt (okay, so einen kennt nicht jeder, aber ähnliche Scheiss wird vermutlich vorkommen)
  • Wenn Luftfilter zwar in den Gebäuden für alte Leute (wie Gerichte und Parlamente) eingebaut werden, nicht aber in Schulen
    dann wird es immer schwieriger, die Ungerechtigkeit zu ertragen.
    Anders gesagt: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Auf der Covid-Schiene kommt es weiterhin auf das Verhalten der nicht-geimpften an – auf der sozialen Schiene erscheint mir das Verhalten der Geimpften wichtiger…