Der Sonne entgegen (von Corinna Vanvlodorp)

Ich habe den Schleier gelüftet.
Wie ein Vogel bin ich geflogen, meine Federn zur Sonne gestreckt.
Unbedeckt. Leuchtend. Frei.

Ich habe alles gegeben und alles
riskiert. Aber wie solltest Du wissen, wovon ich rede?

Heimatlose sind wir doch, Du und ich.
Gefangene waren wir beide. Du, der Gefangene Deines Geistes. Eines
Hauses fester gemauert als Stein und Stacheldraht aus Ehre und Blut.
Gefangen in Traditionen, die zu Dir flüsterten aus den Märchen
der Alten. Die Dich des Nachts heimsuchten, mit rauchigen Stimmen,
bei Tee und Shisha, gedämpft durch zu enge Wände, wo Du
Dich in den Schlaf weintest. Hier in der Fremde.

Und ich – ich war die Gefangene
meines Geschlechts, und Deine. Und doch hatte ich eine Wahl. Ist es
nicht das, was die Freiheit ausmacht? Das wir die Wahl haben, diese
oder jene Konsequenzen zu erleiden? Habe ich das alles gewählt?
Als ich demütig und bedeckt das Haus verließ, als ich
ging, viel früher als nötig, nur um in der Schule die
Kleidung zu tauschen, was habe ich da gedacht? Dass Sie es nicht
sehen können. Aber Du hast es doch gesehen. Habe ich Dir
vertraut? Wie war das, als sie Dich hoch hoben, damals, in dieser
fremden Welt, damit Du unsere Mutter und ihr neugeborenes Leben
bestaunen konntest, mich? Hast Du da schon beschlossen zum Wächter
meiner Tugend zu werden? Oder war es als Du hier keine Wurzeln bilden
konntest, dass Du Dir Wurzeln geschaffen hast in eine Welt und
Vergangenheit, die es für mich nicht gibt? Hätte ich wissen
sollen, dass der Preis so hoch ist, als meine Röcke kürzer
wurden und meine Haare im Wind wehten? Als das gekaufte Rot meine
Lippen zum Leuchten brachte? Und meine Lippen die Augen des Jungen,
dessen Gesicht Du nicht kennst und dessen Namen Du niemals erfahren
wirst.

Vielleicht habe ich es gewählt.
Vielleicht sind sechzehn Jahre zu jung um Deine hilflosen Schreie zu
verstehen, die Du mit selbstverständlicher Gewohnheit und tiefer
Inbrunst in meinen Körper getrieben hast. Faust um Faust. Ich
habe Dein ertrinkendes Ringen um Heimat nie verstanden. Fremd war ich
vor allem Zuhause. Die Macht der Gewohnheit, sagt man hier. Ihr
hattet mich fort geschickt, auf dass ich geheilt zurück kehre.
Genesen von den Geschwüren dieser lüsternen westlichen
Welt. Und als ich zurück kehrte? Ich habe mich bedeckt gehalten.
Eine Zeit. Dann rief sie mich wieder, die Macht der vertrauten
fremden Welt, die mich anzog. Unabdingbar. Mich mit sich nahm. Und in
der ich doch nicht bleiben konnte. Ich hätte weglaufen können,
aber die Fesseln waren zu stark. Ist es dieselbe Fessel, die Vater
dazu brachte mich zu schlagen, wieder und wieder, bis ich zitternd am
Boden, mich kaum noch rühren konnte, die gleiche, die Deinen
Bruder, meinen Bruder dazu bringt, mich festzuhalten, bis ich ohnehin
den Schlägen nicht mehr entfliehen kann? Ich habe ihn gebadet
und seine Nase geputzt. Ist das Liebe?

Aber ich hatte die Wahl. Ich hätte
nicht zurückkehren müssen, als sie mich mit sich genommen
hatten, getragen auf den Armen der Staatsgewalt, weil ich nicht mehr
gehen konnte.

War diese Entscheidung die
Alles-entscheidende? Dass ich mit ihnen ging? War das die Wahl, die
alles besiegelt hat? Oder war es der Moment, wo wir uns trafen, Du
und ich. Zwei Gefangene an den Ketten ihrer Gewohnheiten. Was habe
ich erwartet, als ich Deinen Anruf bekam, Frieden? Hätte ich
nicht wissen müssen, dass Frieden und Freiheit selten die
gleiche Straße beschreiten?

Und Du? Hast Du gewählt? Als Du
das Messer in mich getrieben hast, wieder und wieder, als mein Blut
den Bahnsteig bedeckte, sich über Dich ergoss, mein Blut,
dasselbe Blut wie Deins, hast Du gewählt? Als ich starb, dort
auf dem Platz vor dem Bahnhof, hast Du gewählt?

Oder musste ich diese Wahl für
Dich treffen? Habe ich das mit meinem Leben entschieden, meine
Schande, Deine Schande? Und Du, hast Du jetzt eine Heimat gefunden?
Bist Du jetzt frei? Fliegst Du, leuchtend, einem Vogel gleich, der
Sonne entgegen – unbedeckt?

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