Sternenklar

Sternenklar.

Im Turme stand die Prinzessin und bang. War ihr Retter nah? Würde er kommen?
Hundert Jahre sie stand. Oder saß. Oder aß. Und wartete. Die schönste aller Schönen, der Fluch aller Flüche. Eine Held sollte es sein. Ein Ritter strahlend schön. Das Paar der Zeiten.

Sie stellte sich vor. Den Kuss. Den ersten und wertvollsten Kuss. Den Kuss, der die Welt erschüttern würde vor Freude. Würde er blaue Augen haben? Einen kecken Bart? Würde er ein strahlender Krieger sein? Und Poet des Herzens?

Sternenklar.
Goldnes Haar.

Der Tag er nahte. Der Tag der Entscheidung. Drei mal drei Jahre der Übung. Er war ein stattlicher junger Mann geworden, der junge Prinz. Ein Mann mit Kraft und Mut, ein Krieger mit Stolz und Eleganz. Bald Herrscher eines Landes, bald Gatte der Wunderschönen. Seit einhundert Jahren stand der Turm im kahlen Wald. Seit 100 Jahren hauste dort der Drache und bewachte sie, die so schön war wie der Beginn der Welt. Der Magier, dessen Liebe sie hatte verschmäht, lag in seinem steinernen Grab, erschlagen von seinen eigenen Intrigen, getötet durch seine Gier. Doch der Drache wachte weiter, einem unsinnigen Auftrag folgend, in einem endlosen Kreis von Gewalt. Immer wieder gefordert von mutigen, dann aber toten Rittern, von Flammen verzehrt.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.

Sie schaute aus dem Fenster in das helle Morgenlicht. Und sie bemerkte ihn, wie sie so viele bemerkt hatte. In dem Wald wähnte er sich sicher, verborgen von Bäumen, von toten Ästen. Doch sie sah ihn. Und der Drache sah ihn. Wenn man so hinausstarrt, Stunde für Stunde, ein Tag nach dem anderen, Monat hinter Monat, Jahr folgt Jahr, wenn man so hinausstarrt, dann sieht man. Sie wusste, dass der Drache noch nichts machen würde. Früher wäre er über den Wald geflogen, und hätte ihn sofort angegriffen. Doch jetzt war er müde und faul. Er wartete nur. Sie wusste nicht, wovon sich der Drache ernährte. Es war ihr ein Rätsel. Er spie seine Flammen, es blieb höchstens ein Skelett. Doch er aß nichts.

Zu Anfang war sie in Ohnmacht gefallen. Sie dachte sterben zu müssen bei dieser Grausamkeit. Doch jetzt war es alles anders. Es war normal. Sie empfand nichts beim Tod derer, die sie nicht retten konnten. Sie wartete nur auf den einen. Doch kamen viele, die nicht der eine waren.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.

Der Weg war lang. Der Wald des Verderbens war groß, größer als ein Mann an einem Tag durchreiten mag. Ein Drache kann weit fliegen, wenn er will. Doch in den letzten Jahren war der Wald geschrumpft. Wurde der Drache schwächer?

Er bekam Hunger. Doch hatte er seit Stunden kein Tier gesehen. Der Wald war kein Ort für Leben, dieser nicht. Keine Vögel. Weder Hase noch Igel. Weder Fuchs noch Dachs. Und hätte er gegraben, so hätte er nicht einen Wurm gefunden.

Doch da stand es. Ein Reh. Er warf seinen Speer, und dieser heftete das Tier an einen Baum. Er ging näher. Da bemerkte er, dass es noch lebte. Und zu seiner Verwunderung sprach es zu ihm.

„Haltet ein, edler Ritter, und verschonet mich. Dann werde ich euch von Nutzem sein!“

Er ging näher heran, so dass er neben dem Tier stand. Das Blut floss auf dem Boden, und wo es traf, da entsprang eine Blume, eine Blume so schön wie die Prinzessin seien musste.

„Befreit mich, und nehmt die Blume-“

Er tat so, und er wunderte abermals. Denn kaum hatte er den Speer aus dem Fleisch gezogen, da schloss sich die Wunde, und das Tier war so schön heil wie je zuvor. Es sprach zu ihm: „Du tatest gut daran, mir Gnade zu gewähren. So werde ich dir eines sagen. Deine Schwert wird nutzlos sein gegen den Drachen, und weder Schild noch Rüstung können dich retten. Trenne dich von ihnen, und nehme nur die Blume. Gehe mit ihr in der Hand auf den Drachen zu, und halte sie ihm hin. Und dann sieh.“

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg?

Sie wunderte mit ihm. Hunderte Jahre, und vor neunzig hatte sie zum letzten Mal ein Tier gesehen. Und jetzt, nach mehreren Ewigkeiten, war wieder eines im Wald erschienen. Und er hatte es nicht getötet, trotz seines Fleisches, seines saftigen Fleisches. Was war geschehen? Warum legte er seine Rüstung ab, sein Schild, sein Schwert? Wollte er sterben? Wollte er sie gar nicht retten? War dies eine neue Gemeinheit des Drachen?

Mit einer Blume in der Hand, einer wunderbaren einzigartigen Blume, schritt er zum Turm voran. Wäre doch sie die Blume in seiner Hand gewesen. Doch so würde er es nie schaffen sie zu befreien.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg.
Heldentum ist nicht Krieg.

Er kam dem Turm näher. Dem Turm und dem Drachen. Er sah ihn. Zusammengerollt um den Turm. Doch er rührte sich nicht. War der Drache schon tot? Brauchte er ihn nur vom Eingang wegschaffen?

Doch da sah er einen Strahl unter den schweren Wülsten über der Bestie Augen. Ein kleiner Strahl des Verderbens, das innere Leuchten. Der Drache, er schlief nicht, er versuchte ihn zu locken. Und lachte er? Umspielte ein Lächeln das riesige Maul?

Da kam ihm der Gedanke.

Hier stand er. Ohne Rüstung. Ohne Schild. Ohne Waffe. Nur in seinem Gewande. Er stand ohne Pferd, denn Pferde gehen nicht dorthin, wo Drachen sind. Er war nur das, was ein Mensch nun war. Schwach. Langsam, langsamer als ein Drache. Sterblich.

Er trug das weiße Gewand. Ein Gewand, wie auch ein Toter es tragen würde, so fiel es ihm ein. Und er trug nur ein einzige Blume bei sich. Schön, sicher schöner als er. Und doch verletzlicher, noch verletzlicher als er selbst.

Da erhob sich der Drache. Er erhob sich, und er wankte auf den Ritter zu. Der Boden bebte.

Nun hätte er sein Schwert erwünscht. Ein Streitross. Eine Lanze. Eine dicke Rüstung. Doch nun war es zu spät. Für ihn und sein Leben.

Das Maul öffnete sich, und tief im Innern sah er das Feuer, das gewaltige Feuer der Urzeit. Sein Tod war nah. Er schloss die Augen.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg.
Heldentum ist nicht Krieg.
Ein alterbrachtes Zeichen.

Eine Sekunde verging, als wäre sie ein Jahr. Als wäre sie viele Jahre. Das ganze Leben umfasste eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden … Er spürte nichts. War der Tod gnädig? War er schon im Himmel angelangt?

Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er die Augen wieder öffnete. Doch er sah, und der Drache sah. Der Kopf kam hervor, und er nahm die Blume aus des Ritters Hand, langsam, vorsichtig, beinahe zärtlich. Dann begann der Drache zu steigen, langsam aber kraftvoll, mitten in den Himmel herein. Es stürmte, die kahlen Bäume, selbst der Turm er schwankte. Dann legte sich der Sturm, er wurde immer schwächer, und das Schlagen der Flügel wurde leiser.

Da stand er alleine vor dem Turm.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg.
Heldentum ist nicht Krieg.
Ein alterbrachtes Zeichen.
Drache muss weichen.

Die Tür schwang auf. Der Ritter trat hinein. Die Treppe war verstaubt, seit einhundert Jahren unbenutzt. Doch nun kam ihr Sinn. Er schritt hinauf. Sein Gewand, es strahlte, wie er es nicht gehofft hatte. Denn Kämpfe sind schmutzig. Doch nun war es, wie er es immer erträumte hatte. Ohne ihn umgebendes Blech. So wollte er sein. Er wollte ihr Liebhaber sein, ihr ewiger Liebhaber. Er wollte für sie auf alles verzichten, auf das Gold seiner Väter, auf das Reich seiner Ahnen, auf alles, was ihm bisher wichtig war.

Der letzte Tritt. Die letzte Stufe. Alles war von ihm abgefallen. Der Stolz und der Ruhm. Da war nur noch er. Er allein. Und sie.

Sie stand vor ihm. Im lichtigen Schatten der aufgehenden Sonne. Er war geblendet.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg.
Heldentum ist nicht Krieg.
Ein alterbrachtes Zeichen.
Drache muß weichen.
Haar es weht.

Da trat sie einen Schritt vor, und die Sonne umstrahlte sie.
Da erschrak er.
Und begriff er.
Und er fragte.
Sie schüttelte ihr Haupt und ihr ergrautes Haar.
100 Jahre sind lang.

Sternenklar.
Goldnes Haar.
Flamme der Nacht.
Lange gewacht.
Magie bringt Sieg.
Heldentum ist nicht Krieg.
Ein alterbrachtes Zeichen.
Drache muss weichen.
Haar es weht.
Doch zu spät.

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